Zuhause in Skandinavien

Zuhause in Skandinavien

(3. Mai 2015)

Ági 1Agnes war meine Jahrgangskameradin an der Universität. Nach unserem ersten erworbenen Diplom sind wir beide Gymnasiallehrerinnen für Literatur, ungarische und russische Sprache geworden. Der Lebensweg von uns beiden ist weit weg von dem abgebogen, wo  wir vor 31 Jahren angefangen haben.

– In gleichem Jahrgang, aber in verschiedenen Gruppen haben wir an der Universität Debrecen studiert. Ich erinnere mich an dich, wie eine starke Frau, eine Kämpferin, die aus jeder schweren Situation als Gewinnerin herausgehen konnte. Noch dazu hast du mit den Sprachen schon damals jongliert. Würdest du mit uns die wichtigen Stationen von deinem Leben in Ungarn teilen?

– Nach der Universität bin ich bis 2000 in Debrecen geblieben. Ich habe 3 Jahre an der Universität gearbeitet, dann habe ich Englisch und Ungarisch als Fremdsprache in verschieden Schulen, in Erwachsenenbildungen und in der Sommeruniversität Debrecen unterrichtet. Nebenbei habe ich für ein Übersetzungsbüro gearbeitet und imsgesamt ca. 40 Romane aus dem Englischen ins Ungarische übersetzt. 2000 bin ich nach Budapest umgezogen. Zuerst habe ich zwei Jahre beim Open Society Institute gearbeitet, dann habe ich in der Egressy Béni Bilingualer Fachschule ungarische und englische Sprache unterrichtet.

– Mit welchen Sprachen hast du Kontakt gehabt und wie hast du deine Sprachkenntnisse  genutzt?

– Nach dem Diplom habe ich eine staatlich anerkannte Sprachprüfung in der Höchststufe im Englischen gemacht (da wir seit 1989 als Russischlehrerin keine Arbeitstelle finden konnten), und in ein paar Jahren habe ich wieder studiert und mein Englishlehrerin-Diplom bekommen. Ich habe insbesondere aus meinen Englischkenntnissen gelebt und dem konnte ich auch danken, dass ich nach Schweden umziehen konnte. Ich habe ein bisschen die deutsche Sprache gelernt, obwohl ich nie richtig Deutsch sprechen konnte, aber ich verstehe sie ein bisschen. Ich konnte aber davon profitieren, als ich angefangen habe, Schwedisch zu lernen. Dabei haben diese wenigen Deutschkenntinisse sehr viel geholfen, die ich aus meiner Erinnerung wiedererwecken konnte.

– Wie bist du nach Schweden gekommen? War diese Reise damals nur als Abenteuer gedacht , oder hast du schon damals eine dauerhafte Auswanderung geplant?

– Mein Partner ist ein Schwede, wir haben uns in Ungarn kennen gelernt und nach einer ca. einjährigen Fernbeziehung habe ich angefangen, in Uppsala Arbeitsstellen zu suchen. Damals war ich unsicher, aber wir wollten ausprobieren, ob unsere Beziehung funktioniert, wenn wir  wirklich zusammen sind. Nach vier Jahren scheint es so, dass es funktioniert. Ich hatte Glück, ich habe eine gute Stelle gefunden: an einer internationalen Schule unterrichte ich jetzt Textil – auf Englisch. Jetzt fühle ich so, dass ich mein Leben hier zuende leben möchte.

– Wo und wie lebst du im Norden? Was ist das, das dich verzaubert  und auffüllt in diesem Land und was siehst du mit Kritik an?

– Ich arbeite in Uppsala und wohne 20 km entfern von der Stadt, in einer kleinen Ági 2Gemeinde. Ich miete eine kleine Wohnung in der Mitte des Waldes-und-Feldes. Ab Frühling bis Herbst weiden die Kühe unter meinem Fenster. Ich genieße die Stille, die Ruhe, wir machen große Spaziergänge. Die Natur ist wünderschön. Außerdem hat es mich wahrscheinlich am meisten gepackt, dass ich mich hier ab dem ersten Moment in Sicherheit fühle. Die schwedische Gesellschaft ist so, dass man von der Zukunft keine Angst haben muss. Jetzt spreche ich schon ziemlich gut Schwedisch, ich studiere wieder, in einem Jahr habe ich mein Diplom als Textil-Lehrerin und es gibt mir noch größere Sicherheit. Was auch sehr wichtig ist, und ich glaube nicht, dass man sich dafür schämen muss, die finanzielle Sicherheit. Ich arbeite viel, aber nicht mehr, als irgendein Lehrerkollege in Ungarn. Dagegen nehme ich keine Arbeit nach Hause, ich habe keinen Nebenjob oder Privatschüler. Zuhause (in Ungarn)  als Alleinerzieherin musste ich, wie viele andere, Nebenjobs haben. Als ich krank wurde, brach alles zusammen: ich konnte meine Schulden nicht bezahlen, keine Medikamente kaufen. Mein Zustand war aussichtslos. Hier kann ich von meinem Gehalt meine Schulden in Ungarn bezahlen und, auch wenn bescheiden, aber leben.

Was ich mit Kritik ansehe, ist das schwedische Schulsystem. Während wir uns in Ungarn  über das steife, preußische Schulsystem beschweren, sehe ich hier das entgegengesetzte Ende des Spektrums und es macht hier viele Probleme. Zum Glück basiert unsere Schule auf dem englischen System, so kombiniert der mehr konventionelle, auf Respekt und Disziplin basierender Unterricht mit der sehr lockeren Auffassung. Es passt sehr zu meiner Lehrerpersönlichkeit.

In Ungarn sehen viele noch immer den Westen, oder in meinem Fall den Norden, als eine viel mehr entwickelte und viel mehr kulturelle Welt. Ich denke, dass es nur teilweise richtig ist. Ich konnte mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass die Schweden in der Masse (z.B. in den Einkaufszentren oder auf den Fluren der Schulen) sich bestoßen, einander wegschieben – und es selbstverständlich finden. Sie sind nicht höflich. Dagegen sind die Verkäufer(innen), die Schwestern, die Lehrer(innen) sehr nett und geduldig. Sie nehmen das ernst, dass es ihre Aufgabe ist, anderen zu helfen. Für mich ist es eine komische Diskrepanz. Die Bürokratie ist auch verblüffend. Ich bin schon fast vier Jahre hier, aber ich unterrichte noch immer „ohne Qualifizierung”, weil ich mein Diplom noch nicht anerkennen lassen konnte.

– Du hast das erreicht, was für viele von uns nur ein Traum bleibt: du konntest deine Kreativität, deine Erschaffungslust und Hobbys auch ohne  „offizielle Qualifizierung” in den Vordergrund stellen. Du konntest diese in Hauptbeschäftigungen umwenden. Welcher Weg hat bis hierher geführt? Wie sieht es im Alltag aus?

– Ich hatte großes Glück, weil ein guter englischsprachiger Lehrer in einer Ági 3internationalen Schule gesucht wurde, traditionelles Textilfach zu unterrichten. Für mich war die Handarbeit lange nur ein Hobby. Ich habe in meinem ganzen Leben gestrickt, dann in Finnland habe ich weben gelernt, aber all das ist in den letzten zehn Jahren zur Leidenschaft geworden. Ich habe viele neue Techniken vom Internet auf Englisch gelernt und ich schreibe einen Blog auf Englisch über meine verschiedenen Handwerksabenteuer. Als  ich mich dann für die Stelle beworben habe, konnte ich den Schulrektor davon überzeugen, dass ich für die Stelle geeignet bin. Und so wurde mein Traum erfüllt: ich bin den ganzen Tag mit meinem Hobby beschäftigt. Wir unterrichten ab 5. bis 9. Klassen Textil, wir weben, nähen, sticken, stricken,  häkeln mit den Kinder. Unterrichten habe ich schon immer gemocht, aber das ist ganz anders: ich genieße es, dass ich Kindern helfe, ihre Kreativität zu entfalten. Und auch ich selsbt lerne täglich etwas Neues.

– Deine Tochter lebt in England. Zwei Ungarinnen in zwei verschiedenen Ländern und Kulturen, sie treffen sich hin und wieder …  – es scheint mir so, als würden dabei drei verschiedene Kulturen zusammenkommen. Hast du im Zusammenhang damit interessante Erlebnisse?

– Das Zusammenleben der drei Kulturen existiert sowieso in unserem Leben, weil mein Partner halb Engländer ist, sein Vater ist aus England nach Schweden in den fünfziger Jahren  umgesiedelt. Die englische Sprache ist bis heute die gemeinsame Sprache zwischen uns, wobei wir immer mehr auch auf Schwedisch sprechen. Wenn meine Tochter uns besucht, dann entsteht eine sehr witzige Sprachmischung, weil wir es genießen, dass wir auch auf Ungarisch sprechen können. Aber wir möchten Stephen aus der Unterhaltung nicht ausschließen, deswegen wechseln wir oft auf Englisch. Hingegen fallen mir die Wörter jetzt oft schon zuerst auf Schwedisch ein… wir lachen viel. Meine Tochter sagt, sie merkt schon, dass ich manchmal die Worte suchen muss, wenn ich auf Ungarisch spreche. Es ist nicht gut, aber ich weiß nicht, ob das vermeidbar ist, wenn man nicht auf Ungarisch spricht. Leider lese ich auf Ungarisch auch nicht, nur noch die Zeitungen.

– Wie könntest du dein heutiges Selbst beschreiben? Was gab dir Schweden, was hat es an dir verändert?

– Ich bin ruhiger. Natürlich gibt es hier auch alltäglichen Stress, es gibt Probleme, aber es ist leichter diese zu lösen, wenn man weiß, dass es einen sicheren „Grundstein“ gibt. Ich genieße sehr, dass ich den ganzen Tag mit Textil beschäftigt bin, das Studium ist auch großartig, ich habe fast Flügel bekommen. Ich mache ständig Pläne. Ich fühle nicht nur, dass ich meine Ziele, oder einen sicheren Hafen erreicht habe, sondern auch, dass es noch weitere Wege gibt, die von hier weiterführen. Vielleicht erreiche ich eines Tages, dass ich mein nächstes Ziel verwirklichen kann: ich möchte Textilkünstlerin werden.

Ági 4Blog: The world according to Ági

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